Während die Videospiel-Industrie mit schwindelerregenden Entwicklungskosten und Entlassungswellen in einem gesättigten Markt kämpfte, verkaufte ein neuer AA-Titel von einem kleinen Team in Montpellier zwei Millionen Exemplare in zwölf Tagen. Diese Gruppe von Berufsanfängern brachte Innovationen in ein Sub-Genre, das größtenteils ausgestorben schien und verpackte sie in einem äußerst französischem Gewand. Inmitten der Covid-Pandemie verarbeiteten sie ihre eigenen Verluste zu einer mitreißenden Erzählung von Schockmomenten und Trauer. Dies ist die Entstehungsgeschichte von Sandfall Interactive und ihrem Debüttitel Clair Obscur: Expedition 33.
Distanziert von traditionellen Zaubern, dafür mit einer emotionalen Geschichte und realistisch porträtierten Charakteren, schlug Final Fantasy VIII 1999 wie eine Bombe ein. Die optische Fusion von viktorianischer Ästhetik und Space-Age-Technologie, sowie die Handlung um eine Söldnertruppe, die mit ihren Ängsten und Beziehungen kämpfte, verkaufte innerhalb von vier Tagen 2,5 Millionen Exemplare. Ein Vorbild, dem Clair Obscur: Expedition 33 zweieinhalb Dekaden später nacheiferte. Denn für dessen Erfinder, Guillaume Broche, bildete Final Fantasy VIII den Höhepunkt seiner Kindheit. Besonders dieser Ableger auf Sony’s erster Playstation, aber auch die folgenden Final Fantasy IX und X, sowie Hironobu Sakaguchi’s späteres Lost Odyssey, taten es dem jungen Franzosen an. Die rundenbasierenden Schlachten packten ihn ebenso, wie die epischen Erzählungen von unbezwingbaren Helden, die mit den Folgen von Unsterblichkeit kämpften und allen Widrigkeiten trotzend, Welten vor dem Bösen retteten.
Unabhängig von dieser Hingabe, strebte Guillaume jedoch zunächst keine Karriere in der Videospiel-Industrie an. Ohne ein konkretes Lebensziel, studierte er Marketing und fand dadurch indirekt als Praktikant seinen Weg zu Ubisoft und Microsoft Paris. Das Graduate Program von ersterem führte ihn, nach seinem Master Abschluss, durch die verschiedenen Studios und möglichen Rollen innerhalb des französischen Publishers. Wodurch er, abseits der Handhabung von Brands wie Tom Clancy (Ghost Recon Breakpoint) oder Might & Magic, ebenso das Management von kleineren Teams erlernte. Besonders letzteres frustrierte ihn jedoch stark. Denn bereits in seinem zweiten Jahr, während der Produktion von The Division 2, verstand Guillaume nur die Hälfte von dem, was Designer und Programmierer in den Meetings besprachen. Um dahinter zu steigen, installierte er eines Abends Epic Games‘ Unreal Engine und erkundete diese auf eigene Faust. Das Erlernen der Game-Engine machte ihn von einer Minute auf die andere dermaßen süchtig, dass er die folgenden Wochen, nach seinem eigentlichen Job, nächtlich bis zu acht Stunden darin arbeitete.
Während Ubisofts Graduate Program den Franzosen in Shanghai als Schreiber für Charaktere und Geschichten von Might & Magic stranden ließ, ging er so privat sein erstes eigenes Spiel an. Ein Werk mit dem Titel „We Lost“, was die typischen dreidimensionalen rundenbasierenden JRPGs wieder aufleben lassen sollte. Der Spielfokus lag dabei klar auf einer Handlung, welche die Zuschauer packte und nicht mehr los ließ. Wofür Guillaume auf den französischen Roman „Die Horde im Gegenwind“ (La horde du contrevent) zurückgriff. Die Schilderung einer Welt, welche seltsame Stürmen plagten. 33 Expeditionen scheiterten bei der Ergründung des Ursprungs bereits, bevor eine den gigantischen Wind-Tunnel erkundete. Guillaumes „We Lost“ Konzept versetzte den Spieler dabei ans Ende einer verlorenen Schlacht und spann von da an einen Plot um die Zeit.
Ungeachtet seines neuen Interesses, fehlten ihm jedoch weiterhin allgemeine Programmierkenntnisse. Weshalb er zur Unterstützung Tom Guillermin heran zog. Einen Kollegen von Ubisofts’s Massive Entertainment Team, den er zuvor beim Schweden-Aufenthalt kennenlernte. Tom programmierte in dieser Prototypen-Phase verschiedene Ansätze des Kampfsystems. Für die beiden ging es bei dem Hobby-Projekt vor allem darum, Echtzeit-Elemente in das traditionelle Rundensystem einzubauen. Dinge wie Quick-Time-Events zum Wirken von Zaubern oder einer Mechanik zum freien Zielen. Denn sie jagten einer innovativen Komponente nach. Die in Guillaumes Augen brillante Idee, überkam ihn beim parallelen Spielen von FromSoftware’s Sekiro. Denn er liebte das Parieren der Dark Souls Variation und fragte sich, warum das noch nie jemand kombinierte? Eine Annahme, die ihm Tom sowie sein alter Studienkollege Francois widerlegten. Denn nicht nur Spiele wie Square’s Super Mario RPG, Intelligent Systems‘ Paper Mario oder HAL Laboratory’s Mother 3 realisierten in der Vergangenheit sehr wohl ähnliche Systeme. Selbst Squalls Gunblade in Guillaumes Final Fantasy 8 Liebling bot bereits eine ähnliche Mechanik für kritische Treffer. Ungeachtet dessen hielten die Entwickler am Parieren fest. Die richtige Balance dieses und weiterer Echtzeit-Elemente zu finden, kostete sie dabei die meiste Zeit. Angelehnt an die Lieblinge von Guillaumes Kindheit, entstand so im ersten Jahr eine Steampunk-Welt mit viktorianischer Ästhetik und post-apokalyptischen Einflüssen. Da weder Tom noch Guillaume über grafische Kenntnisse verfügten, griffen sie dabei auf zahlreiche fertige Assets zurück. So gedieh eine sehr abwechslungsreiche Welt mit Untoten und Aliens gleichermaßen.