Es war ein ungewöhnlich warmer Morgen, an dem Amicia mit ihrem Vater durch den Wald spazierte. An dem Tag gab Robert Amicias beinahe täglichem Betteln nach, sie erneut die Ritterprüfung ablegen zu lassen. Ein Wurfspiel, das er sich Jahre zuvor ausdachte, um sie bei Laune zu halten. Als Herzog durfte er sie selbstverständlich nicht wirklich zum Ritter schlagen, es ging mehr darum Amicia den Umgang mit der Steinschleuder beizubringen. Die beiden verbrachten viel Zeit miteinander, besonders seit Hugos Geburt, fünf Jahre zuvor. Ohne etwas dafür zu können, spaltete ihr Bruder die Familie. Die vergangenen Jahre verbrachte ihre Mutter gefühlt Tag und Nacht damit, ein Heilmittel für Hugos Krankheit zu suchen. Amicia bekam sie kaum noch zu Gesicht, geschweige denn Hugo. Aber dafür kümmerte ihr Vater sich liebevoll um sie. Zumindest bis zu dem Tag.
Gerade als Amicia den Siegerapfel vom Baum schoss, witterte Lion etwas. Knurrend sprintete der Jagdhund los. Wenige Minuten später, hatte Amicia Lion nicht nur ein, sondern das Wildschwein mit ihrer Schlinge erlegt. Zumindest glaubte sie das. Denn während Robert und sie jubelten, raffte das Schwein sich wieder auf und jagte tiefer in den Wald. Den Blutflecken und Bellen Lions folgend, stampfte Amicia in einen deutlich sumpfigeren Teil des Gehölzes. Selbst einige Bäume verloren den Kampf gegen den schwindenden Untergrund. Dann sah Amicia das Wildschwein wieder. Zumindest was davon übrig blieb. Denn es war beinahe bis auf die Knochen abgenagt und das offenbar innerhalb weniger Sekunden. Das konnte unmöglich ihr Hund gewesen sein. Verstärkt wurde der Gedanke von den winselnden Geräuschen hinter der nächsten Kurve. Lion lag Blutverschmiert am Boden und guckte nur noch mit dem Vorderteil aus einem merkwürdigen schwarzen Loch. Während Amicia ihn tröstend streichelte, schloss ihr Vater zu ihnen auf. In der nächsten Sekunde begann die Erde zu beben und eine Sekunde später saugte etwas Lion ins Loch. Robert zog sofort sein Schwert, fand aber keinen Gegner. Es dauerte nur zwei oder drei Sekunden, dann beruhigte der Boden sich wieder. Ihr Vater beschloss, Amicia in Sicherheit zu bringen, bevor er eine Jagdgesellschaft zusammen trieb.
Zurück im Familienanwesen, eilte Amicia zu ihrer Mutter, als Pferde auf den Hof galoppierten. Beatrices Gesicht nahm eine ernste Miene an, bevor sie die Kinder verließ. Sonst ließ ihre Mutter Amicia nie in Hugos Zimmer. Und jetzt sollte sie sich auch noch mit ihm verstecken. Zu ihrem kleinen Bruder ging sie, doch statt des Schutz Suchens, blickte Amicia aus dem Fenster. Genau in dem Augenblick, in welchem ein Inquisitor ihren Vater erstach, weil er sich weigerte, Hugo raus zu rücken. Kaum ging ihr Vater zu Boden, hämmerte es an der Tür. Amicia brachte sie gerade noch in deren toten Winkel in Sicherheit, bevor ein Soldat die Holztür eintrat. Ihm und den folgenden Männern ausweichend, schlich das Mädchen mit ihrem kleinen Bruder an der Hand zum Hinterausgang des Hauses. Aber als sie diesen öffnete, stand sie einem weiteren Soldaten direkt gegenüber. Glücklicherweise schlug ihre Mutter den Mann im nächsten Augenblick K.O. Zu dritt pirschten sie sich an den suchenden Soldaten vorbei durch den Obstgarten zum Ende des Anwesens. Gerade als Amicia und Hugo das Außentor durchschritten, sprintete das Pferd des Inquisitors herbei. Ihre Mutter rief ihr zu, sie solle Hugo zu Doktor Laurentius bringen, dann warf sie das Tor zu. Amicia hämmerte dagegen und wäre beinahe aufgespießt worden. Denn Inquisitor Nicholas Schwertklinge schoss in der nächsten Sekunde blutverschmiert durch das Holztor. Nach Luft schnappend, rannte das Mädchen davon.
Dem Fluss folgend liefen die Geschwister ins nahegelegene Dorf. Ein, dank der schwarzen Pest, gänzlich verbarrikadierter Ort. Lediglich auf dem Hof der Kirche fanden Amicia und Hugo einen Auskunftswilligen. Pater Thomas wollte sie umgehend in Sicherheit bringen, damit sie sich nicht ebenfalls infizierten. Er selbst konnte die Kirche nicht verlassen, führte die Geschwister jedoch durch die Krypta der drei Heiligen in Richtung von Laurentius Hof. In dem Moment, wo Pater Thomas seinen Kollegen Morell suchte, blies ein heftiger Windstoß sämtliche Kerzen der Krypta aus. In der nächsten Sekunde ergoss sich ein Teppich aus Ratten über die Krypta-Treppe. Weitere Nager strömten aus den holen Säulen. Die Biester waren plötzlich überall. Hastig versuchte Pater Thomas zum Licht von Amicias Fackel zurück zu gelangen. Doch der humpelnde Mönch war zu langsam, um den flinken Nagern zu entkommen. In Windeseile erklommen sie ihn und begannen sein Fleisch abzunagen. Das mussten die Ursprünge der Pest gewesen sein, von denen Pater Thomas zuvor sprach. Nur an Amicia und Hugo trauten sich die Ratten nicht heran. Offenbar hielt das Licht ihrer Fackel sie fern. Die Flamme als Abschreckung schützend vor sich haltend, bahnte Amicia sich mit ihrem kleinen Bruder einen Weg durch die verbliebene Krypta. Erst im Wald gönnten sie sich eine Verschnaufpause. Das Tageslicht schien den Nagern ebenso zu missfallen wie Feuer.
Das einzig Gute an den Ratten war, dass die französischen Soldaten sie ebenso fürchteten, wie die Kinder. Aber zu allem Überfluss erschwerte Hugo ihr gemeinsames Vorkommen. Ständig hielt er sich den Kopf, weil seine Sicht verschwamm und er Stimmen hörte. Ihr kleiner Bruder konnte sich dabei kaum auf den Beinen halten. Weshalb Amicia ihn auf den Rücken nahm. Was sollte sie auch anderes machen? Nach dem Tod ihrer Eltern, war Hugo das Einzige, was ihr noch blieb.
Die Sonne ging langsam unter, als die Geschwister Laurentius Hof erreichten. Der ehemalige Alchimisten-Kollege ihrer Mutter erwies sich jedoch als geringe Hilfe. Erkrankt an der schwarzen Pest, lag er in den letzten Zügen. Mit Erwähnung der Inquisition, erzählte Laurentius von einem alten Übel, was durch die Adern der de Rune Familie floss und bei Hugo zum Ausbruch kam. Ihre Mutter, Beatrice, und er versuchten dem Einhalt zu gebieten. Aber dann setzte das Große Erwachen ein und der Blutfluch gedieh schneller in Hugo. Das war der Grund, warum die Inquisition ihn jagte. Mit dem Tod ihrer Mutter und Laurentius ebenfalls im Sterben, fiel die Suche nach einem Heilmittel nun Amicia zu. Das obwohl sie keinerlei Ahnung von Alchemie hatte. Zumindest konnte Lucas ihnen helfen. Der zwölfjährige Lehrling des Magisters, half Amicia ihm Labor der Scheune aus Alkohol, Schwefel und weiteren Komponenten einen Ignifer zu mischen. Ein Mittel, mit dem sie Feuer entfachen und sich so die Ratten vom Hals halten konnten.
Eigentlich wollte Lucas im Anschluss zu seinem Meister zurück. Doch im Schutz der Dunkelheit, schossen Ratten aus dem Erdboden, stießen ein Fass mit Reagenzien um und setzten so Laurentius Haus in Brand. Für den Alchemisten kam jede Hilfe zu spät. Verfolgt von der Rattenplage, stürmte das Trio in die Nacht und fand nach wenigen Metern ein rettendes Boot. Aufs Wasser folgten ihnen die Nagetiere nicht. Für die nächsten Stunden waren sie sicher.