Mickey schlummerte friedlich in seinem Bett. Bis ihn eine unsichtbare Macht weckte und zum Spiegel lockte. Schnell erklomm er den Kamin und wurde augenblicklich in den Spiegel gesogen. Das magische Portal verschlug die Maus in Meister Yen Sids Werkstatt, der im selben Moment den finalen Touch an seine neuste Kreation legte: Ein Reich von vergessenen Zeichentrickfiguren. Als sich Yen Sid, Augenblicke später, in seine privaten Gemächer zurückzog, betrachtete Mickey das aufwendige Modell genauer. Wie der Zauberer zuvor, wollte Mickey der Landschaft etwas beitragen, verschüttete jedoch versehentlich Farbe und Verdünner auf die frisch gemalte Welt. Die Verbindung der beiden Substanzen entfesselte im Handumdrehen ein monströses Geschöpf: das Schattenphantom. Aufgeschreckt durch das Getöse, eilte Yen Sid herbei. Doch bei seinem Eintreffen, war Mickey längst geflohen.
Viele Monate vergingen. Mickey erlangte Weltruhm und die Erinnerung seines Unfalls verblasste mit der Zeit. Aber dann, eines Morgens, lief Mickeys Spiegel schwarz an und das finstere Schattenphantom zerrte ihn in die verunstaltete Modellwelt.
Erzählungen von Videospielentwicklern beginnen meist mit Ereignissen aus deren Kindheit, welche sie bereits als Jugendliche Meisterwerke entwerfen ließen. Warren Spectors Laufbahn ist eher das Gegenteil davon. Er stieg erst mit 33 Jahren in die Videospielwelt ein. Mit seinem Kinematografie Studium und seinen Pen-and-Paper-RPG-Design-Arbeiten für TSR, ordnete Warren zunächst Richard Garriots komplexe Gedankengänge zu einem brauchbaren Design Dokument. Wodurch er Ultima VI: The False Prophet zu einem wohl strukturierten Rollenspiel mit ungewöhnlicher Handlung über nette Gargoyles werden ließ. Zeitgleich bewies Warren Geschäftssinn. Er überzeugte den britischen Rollenspiel-Lord, die bereits bestehenden Ultima Engines, welche Origin Systems für jeden Ableger neu entwickelte, für weitere Spiele wie The Savage Empire oder Martian Dreams wiederzuverwenden. Dadurch erhob sich Warren Spector im Handumdrehen zu Origins Produzenten für Spiele wie Crusader: No Remorse, CyberMage: Darklight Awakening, Wings of Glory oder eben die folgenden Ultima Teile. Was ihm aber eigentlich am Herzen lag, waren Spiele, mit einer packenden Handlung, in denen sich der Spieler selbst verwirklichen konnte. Weshalb Warren die Zusammenarbeit mit Paul Neurath für Ultima Underworld und System Shock besonders genoss. Bedauerlicherweise sah Electronic Arts‚ Führungspersonal den Wahl-Texaner hingegen als den überflüssigen B-Movie Produzenten. Seine Spiele erwirtschafteten zweifellos Gewinn, aber Warrens erklärtes Ziel war es schlichtweg, die ihm vorgeschriebene Verkaufsmenge +1 Exemplar zu erreichen. Ihm ging es immer nur um Spielinhalte, nicht um den Gewinn. Womit er gänzlich gegen Electronic Arts Geschäftsmodell arbeitete. So fragte ihn eines Tages ein EA Mitarbeiter, warum er Warren auch nur einen Dollar geben solle? Da er doch wüsste, dass er lediglich einen Dollar und 10 Cent zurück bekäme? Wohingegen Chris Roberts ihm 100 Millionen im Austausch für 10 Millionen gäbe? Im Anschluss an diese Argumentation im Jahre 1996 kündigte Warren Spector und eröffnete stattdessen eine Looking Glas Zweigstelle in Austin, Texas. Wo er mit einem neuen Team begann, ein Sci-Fi Multiplayer Game namens Junction Point, für Paul zu kreieren. Aber schon wenige Monate darauf, geriet Looking Glass in finanzielle Schwierigkeiten und so schloss Warren 1997 gezwungenermaßen sein erstes eigenes Studio.
Die wenigen Mitarbeiter, die ihm ungeachtet dessen weiterhin beistanden, blieben nur kurzzeitig arbeitslos. Denn schon nach wenigen Wochen verhandelte Warren mit den Westwood Studios darüber, aus deren Command & Conquer Reihe einen Rollenspiel-Ableger zu kreieren. Einen Vertrag, den er jedoch nie unterschrieb, weil John Romero persönlich nach Austin kam und ihm das Angebot seines Lebens unterbreitete: ein unbegrenztes Budget für ein Spiel, bei dem ihm Niemand Vorgaben diktierte! Dieses Meisterwerk wurde das Cyberpunk Rollenspiel Deus Ex. Es verkaufte nicht nur mehr als eine Million Exemplare, sondern führte zu Fortsetzungen wie Deus Ex: Invisible War und ließ Warrens Truppe alte Looking Glass IPs wie Thief weiterführen. Aber während Ion Storm Austin auf der Erfolgswelle ritt, verbrannte John Romeros Hauptfirmensitz in Dallas die Millionen. Wodurch Ion Storm gänzlich von Eidos Interactive übernommen wurde und Warren sich in der gleichen Situation wie bei Origin Systems wiederfand. Er pitchte ein Wilder Westen Spiel, aber Eidos Führungsriege behauptete, Western würden sich nicht verkaufen. Warrens Aussage, Western würden sich so lange nicht verkaufen, bis jemand eines machte, das sich verkaufte, ignorierten sie. Wie spätestens Rockstar Games‚ Red Dead Redemption bewies, lag Warren Gold richtig. Nichts desto trotz resultierte Eidos Ablehnung, nach sieben Jahren, in Warrens Ausstieg bei Ion Storm.
So saß er 2004, zusammen mit seinen treuesten Ion Storm Kollegen, im Torchy’s Tacos in einem von Austins Vororten. Gemeinsam beschlossen die 13-Mann, ein unabhängiges Studio für Immersive Sims zu gründen. Angelehnt an ihr früheres Looking Glass Projekt, sollte es den Namen Junction Point tragen. Ein Name, der außerdem ein ideales Symbol für Warrens zweiten Firmenschwerpunkt darstellte. Denn Junction Point sollte die Verbindung zwischen Videospielen und Hollywood-Filmen bilden. So arbeitete Warren, für eines der ersten Projekte, mit Hollywood-Regisseur John Woo zusammen. Gemeinsam erschufen sie die Welt von Ninja Gold. Eine moderne Herangehensweise an die Ninja-Kriegskunst gepaart mit Geheimdienstoperationen. Der Handlungsbogen sollte die Yakuza und den russische Mob in einen Goldraubzug im Herzen Südafrikas involvieren. John Woo’s Lion Rock Produktionsfirma plante den Film zu drehen, während Junction Point im gleichen Universum ein Spiel ansiedelte. Doch dafür benötigte das texanische Studio zunächst Kapital.
Crowdfunding Plattformen wie Kickstarter existierten zu der Zeit noch nicht. Was bedeutete, Junction Point benötigte erneut einen Geldgeber in Form von Publishern wie Activision, Eidos Interactive oder LucasArts. Für diese Suche engagierte Warren Seamus Blackley. Warren lernte ihn Jahre zuvor bei Looking Glass kennen, wo Seamus das Physiksystem für System Shock und Flight Unlimited schrieb. Zwischenzeitlich erschuf Seamus für Microsoft die erste Xbox und leitete dann die Games-Abteilung von Hollywoods Creative Artists Agency. CAA unterstützte bereits Kollegen wie Tim Shafer oder Lorne Lanning bei ihren Double Fine Productions bzw. Oddworld Inhabitants Gründungen. Weshalb Warren vollstes Vertrauen in den Mann setzte.
Innerhalb weniger Wochen fädelte der Agent einen Deal mit Majesco Sales ein. Einem kleinen Publisher aus New Jersey, der in den 90ern mit Sparpreis-Versionen von Super NES und Mega Drive Spielen groß wurde, dann dazu überging Neuauflagen der Sega Konsolen zu produzieren (Sega Genesis 3) und letztlich zum Millenniumswechsel mit Portierungen von Spielen begann. Majesco sicherte Junction Point zu, die Produktion ihres Sleeping Giants zu finanzieren. Einem Fantasy-Rollenspiel in einer Welt, aus welcher die Magie verschwand. Sleeping Giants war geprägt von Drachen, aufwändiger Physik und Elementar-Zaubern. Komplett erdacht von Warren und seiner Frau Caroline Spector. Ein Jahr lang gedieh Junction Points RPG prächtig. Aber dann geriet auch Majesco immer stärker in finanzielle Schieflage. Denn Spiele wie Tim Shafers Psychonauts, wurden zwar von der Fachpresse gepriesen, verkauften sich aber deutlich unter ihrem Produktionsbudget. Letzten Endes stellte Majesco sämtliche Videospiel-Produktionen ein und zog sich aus dem Publishing Sektor zurück. Zu Junction Points Glück enthielt der von Seamus eingefädelte Vertrag eine Kill Fee, wodurch ihnen die Einstellung des Spiels ein gesundes finanzielles Polster bescherte. Aber nichts desto trotz, musste der mittlerweile fasst 50-jährige Warren schnellstmöglich einen neuen Publisher für das oder ein anderes Projekt finden.