Lange davor, im Juli 2010, also rund ein halbes Jahr vor dem Erscheinen des ersten Epic Mickeys, beschloss Disney eine radikale Kursänderung ihres Videospiele-Zweigs. Denn seit 2008 explodierten Videospiele auf Smartphones sowie Social-Media-Seiten. Analysten prognostizierten, traditionelle Spielekonsolen ständen kurz vorm Aussterben. Weshalb die Disney-Führung für 563 Millionen US Dollar Playdom kaufte. Eine Firma die Spiele für Facebook, Google+ und Myspace produzierte. Playdoms Chef, John Pleasants, setzten sie als Graham Hoppers Vorgesetzten ein. Für John war der Südafrikaner der Grund, warum Disney Interactive Millionen blutete. Denn in seinen Augen produzierte Graham zu viele finanzielle Fehlschläge wie Fall Line Studios‘ Ultimate Band oder Black Rock Studios‘ Split/Second. Während Junction Point in der Epic Mickey Crunch-Time steckte, zog Graham dann seinen Hut. Wenige Wochen vorm Spiel-Release kündigte er.
Bei John Pleasants erstem Treffen mit Warren Spector, sagte der Playdom Chef dem Texaner: Leute die Konsolenspiele produzierten, hätten bald keinen Job mehr. Und genauso verfuhr John mit den Disney Interactive Studios. Einen Monat vor dem Epic Mickey Release, stellte er Grahams Flaggschiff-Projekt, Pirates of the Caribbean: Armada of the Damned, ein und entließ die 200 Mitarbeiter des Studios. Das Vancouver-basierende Propaganda Games durfte noch einen Monat lang Tron: Evolution vollenden. Im Januar 2011 schloss es dann endgültig die Pforten. Die 300 Mitarbeiter des englischen Black Rock Studios folgten im Juni selben Jahres. Stattdessen ließ John kleine Studios à la Creature Feep Mobile Games wie Where’s My Water? anfertigen, die tatsächlich Rekorde brachen. Aber das Kuriose für Warren war, dass sein Studio wuchs während die Disney Interactive Studios allgemein schrumpften. Denn die 1,3 Millionen Verkäufe Epic Mickeys, ließen Disneys Analysten prognostizieren, dass Epic Mickey 2 eine Cash Cow werden würde, wenn es bis Herbst 2012 für multiple Plattformen ausgeliefert werden würde. Damit dieser Plan aufging, sorgte Disney in den Folgemonaten für über 200 Festangestellte bei Junction Point selbst und knapp 500 weiteren Mitarbeitern in Support-Studios rund um den Globus. Ungeachtet Johns Drohungen, sah Junction Points Zukunft zum Jahreswechsel 2010/2011 für Warren und Chase somit rosig aus.
Für Chase Jones war Junction Point bereits das sechste Videospiel-Studio in sieben Jahren. Er arbeitete u.a. für das Indie-Studio Mind Engine, Ubisofts Red Storm Entertainment und die Saints Row Macher Volition. Sein wichtigster Zwischenstopp bis dahin war jedoch Visual Concepts in Novato, Kalifornien. Obwohl dieses Flaggschiff-Studio hauptsächlich für die NBA 2K Reihe berühmt war, arbeitete Chase in dem Hangar am Fantastic Four: Rise of the Silver Surfer Action-Adventure. Einzig dessen Game Director, Paul Weaver, und Chase blieben von 2Ks Entlassungswelle im Juni 2007 verschont. Auch wenn die Firmenleitung ihnen versprach, sie in einem ihrer Sport Franchises unterzubringen, hatte keiner der beiden ein gesteigertes Interesse daran. Paul entschied sich zu einem Umzug nach Austin, begann als Junction Points Leiter der Produktentwicklung und holte dann Chase hinterher. Was letzteren zum leitenden Designer des ambitionierten Platformers machte. Bis Herbst 2010 stieg Paul zum Studio-Leiter Junction Points auf und erteilte Chase den Auftrag, mit einem sechsköpfigen Team einen Epic Mickey 2 Prototypen zu entwerfen.
Warrens anfängliches Konzept für Epic Mickey 2 sah vor, Oswald zum Spieler-Charakter zu erheben. Denn an dem Punkt, war jeder vertraut mit dem knuddeligen Hasen und liebte ihn wahrscheinlich sogar. Oswald sollte Mickey jedoch nicht ersetzen, sondern eine Art Tag-Team bilden, wie es Donkey und Diddy Kong in Rare’s Donkey Kong Country taten. Dazu verpasste Chase dem Hasen eine Fernbedienung, die Blitze verschoss und so ähnlich wie Mickeys Pinsel Feinde in Freunde verwandelte. Nur eben nicht mit den lebendigen Kreaturen wie den Blotlings, sondern den mechanischen Beetleworx. Chase und sein Team orientierten sich außerdem an Oswalds alten Zeichentrickfilmen, in denen er Arme, Füße oder Kopf abtrennte, um damit zu rudern o.ä. Deshalb konnte der Zeichentrick-Hase im Spiel seine Arme als Boomerang (Boom-arm-rang) einsetzen und seine Ohren zum Helikopter umfunktionieren. Kooperatives Gameplay war obendrein die häufigste Bitte der Fans, bei der Veröffentlichung des ersten Spiels. Sie fragten, warum sie das Spiel, das für jung und alt gleichermaßen gedacht war, nicht mit ihren Eltern oder Freunden spielen konnten? Für die Käufer, die Epic Mickey 2 vielleicht doch mal alleine spielen würden, kam Chase auf die Idee, den zweiten Charakter von der KI steuern zu lassen. Sodass Mickey und Oswald das gesamte Abenteuer zusammen bestreiten und sich gegenseitig wiederbeleben durften.
Epic Mickeys ursprüngliches Konzept beschrieb es als Open World Rollenspiel. Aber der Wechsel zur Wii als exklusives System und die bereits fest geplanten Geometrie-Veränderungen durch Farbe und Verdünner, sprengten damals die Speicherkapazitäten von Nintendos Konsole. Der Gamebryo Engine gelang es nicht, zeitgleich die Feindmassen der vor und hinter dem Spieler liegenden Gebiete in den Speicher zu laden. Weshalb die Stufenlosen Übergänge verschwanden und Junction Point stattdessen Projektoren einführte. Diese führten in einen zweidimensionalen Jump’n’Run Level, während dem die Wii problemlos alle Elemente des kommenden Levels laden konnte. Für Epic Mickey 2 ließ Chase sich die Dahl Engineering Corridors einfallen. Ein langer Gang ohne Feinde, der angeblich von den Gremlins erschaffen wurde und Mechaniken einer Rube-Goldberg-Maschine beinhaltete. Wo der Spieler also Bälle auf Druckplatten rollen musste oder ähnliches. Da die 2D Level mit Themen von Disney-Klassikern wie „Einsame Geister“ (Lonesome Ghosts) oder „Der verrückte Arzt“ (The Mad Doctor) sich bei den Käufern jedoch größter Beliebtheit erfreuten, blieben sie ebenfalls im Spiel. Chase implementierte zudem eine neue Physik-Engine. So schwebten beispielsweise Kugeln über einer Schlucht, von denen Mickey die untere Hälfte ausradieren konnte. Daraufhin fiel die obere in die Schlucht, Mickey malte die untere neu und überquerte so letzten Endes die Schlucht.
Als die Junction Point Belegschaft in ihren wohlverdienten Weihnachtsurlaub 2010 ging, stand Chases Prototyp sowie die Eckpfeiler des Plots. Sie benötigten jedoch noch Zeit zum Designen und Testen neuer Mechaniken. Aber nach wenigen Tagen Weihnachtsurlaub erhielt Chase einen Anruf von Paul: „Stell dir vor, du bekommst in der zweiten Januarwoche 110 Leute!“. Wie sich herausstellte zeigte Disneys Führungsriege keinerlei Interesse an Junction Points anderen Pitches, wie einer Olympiade mit Disney Charakteren. Sie wollten den vollen Fokus des Studios auf Epic Mickey 2 wissen, damit die Entwicklungsspanne nicht mehr als zwei Jahre betrug. Weshalb Chase seine übrigen Weihnachtstage damit verbrachte, verzweifelte Design-Entscheidungen zu treffen, ohne überhaupt genug Informationen zu den Problemen zu haben und die beste Wahl treffen zu können. Chase musste übereilte Aufgaben für sein enormes Team verteilen.
Aber es brachte auch Vorteile, plötzlich von Disney mit Geld und Manpower überschüttet zu werden. Sie konnten jeder Spielfigur eine Stimme verleihen und dafür sogar die Original-Synchronstimmen engagieren. Für Oswald, der in den 1920er Produktionen keine solche besaß, heuerte Junction Point Frank Welker an. Welcher bereits Disney Filme wie Aladdin oder Arielle, die Meerjungfrau synchronisierte. Was die Vertonung an ging, hob Junction Point die Messlatte mit dem zweiten Spross allgemein drastisch an. Als Warren 2006 das Konzept für Epic Mickey schrieb, plante er keine Sprachausgabe, weil er beim Design des Spiels an Klassiker wie Super Mario oder alte JRPGs dachte. Dafür sah er jedoch ein interaktives Musiksystem vor, welches sich automatisch auf die dynamisch veränderbare Welt einstellte. Als sie dann 2007 den Prototypen konstruierten, merkte das Team jedoch schnell, dass die Welt selbst bereits eine große Herausforderung darstellte. Weshalb das Musiksystem auf Sparflamme lief. Für Epic Mickey 2 wollte Warren aber nicht nur Sprachausgabe, sondern auch unbedingt Lieder einbauen. Denn die Epic Mickey Reihe verkörperte seinen Tribut an 80 Jahre Disney Kreativität und wenn das keine Songs einschloss, verfehlte er das Ziel. Also fragte Warren Komponist James Dooley, ob der in der Lage wäre auch Liedtexte zu schreiben? James war sofort Feuer und Flamme, weil das eine Gelegenheit war, die ihm sonst keiner bot. Er holte sich wiederum prominente Disney-Unterstützung in Form von Mike Himmelstein. Gemeinsam verwandelten sie Epic Mickey 2 in eine Art Musical. Warren wäre liebend gerne sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hätte Spielmechaniken mit den Songs konstruieren lassen, wollte jedoch erst Mal abwarten, wie die Käuferschicht auf die Musical-Änderung reagierte.
Der einleitende Song des Mad Doctors sollte ursprünglich den Handlungsbogen des Spiels lostreten. In dem von Marvel-Comic und Disney-Adventures-Magazine-Schreiber Marvin Wolfman verfassten Plot, hätte die Masken-beschmückte-Maschine des Mad Doctors das erste Erdbeben ausgelöst. Kater Karlo hätte Oswald und Mickey im Auftrag des Doktors ausspioniert und letzterer sich sogar für einige Zeit mit dem Spieler verbündet. Aber als sich Epic Mickey 2 dem Ende seines zweijährigen Entwicklungszyklusus zuneigte, dabei klar wurde, dass das Team nicht alle geplanten Level umsetzen könnte, Disney aber nicht vom Release Termin abweichen wollte, entschied Warren den Plot zu verkürzen. Der Antrieb hinter allem wechselte plötzlich zur „The Mad Doctor’s World of Evil“ Fernsehshow.
Der Grund für den Verzug des Teams, lag sowohl an den kulturellen Konflikten des schnellen Studio-Wachstums, als auch Disneys Führungsriege. Denn zweitere drängten das Team ständig mit den neusten Trends zur Gewinnmaximierung zu experimentieren. So musste Chase sein Team zeitweise eine Free-to-Play-Version und eine Immer-Online-Version des Spiels anfertigen lassen, weil Spiele wie FarmVille oder League of Legends schlichtweg Millionen generierten.